Geschichtliches

Die Evangelisch-Theologische Fakultät in Wien

Karl Schwarz

1. Die Gründung der Lehranstalt

Im Unterschied zu den zahlreichen Universitätsneugründungen im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts: 1810 Berlin, 1811 Breslau [mit zwei theologischen Fakultäten], 1818 Bonn [mit zwei theologischen Fakultäten] - verfolgte die 1821 begründete Protestantisch-theologische Lehranstalt in Wien bescheidenere Ziele. Ihre Errichtung in der Ära des Fürsten Metternich erfolgte, weil das Studium an den Universitäten Deutschlands unterbunden worden war. Denn die dort registrierten „demagogischen Umtriebe“ veranlassten die Habsburgermonarchie, die Grenzen dicht zu machen, um die befürchteten negativen Einflüsse gleichsam auszusperren. Das Studium an allen deutschen Universitäten wurde im Gefolge der Karlsbader Beschlüsse (1819) ausnahmslos untersagt. Eine Konsequenz dieser kulturellen Grenzbalkenpolitik betraf die Theologiestudenten aus den Territorien des Habsburgerreiches, aus den kaiserlichen Erblanden, den Ländern der Wenzelskrone, dem Königreich Ungarn, Siebenbürgen, aus Galizien und der Bukowina. Sie hatten bisher nach einer propädeutischen Ausbildung an kirchlichen Lyzeen A.B. in Preßburg (Bratislava, Pozsony), Ödenburg (Sopron), Eperies (Prešov) bzw. Pápa, Debrecen, Sárospatak (H.B.) ihr Studium an deutschen bzw. holländischen oder Schweizer Universitäten, je nach Konfession und Stipendium, abgeschlossen.  Als Ersatz für die versperrten Studienmöglichkeiten im Ausland sollte sich die Wiener Lehranstalt verstehen. Diese negativen protektionistischen Begleitumstände ihrer Gründung sind an ihr haften geblieben und haben ihren wissenschaftlichen Ruf nachhaltig beschädigt. Denn auch ihr Lehrkörper bestand ausnahmslos aus Geistlichen, die innerhalb des Habsburgerreiches gewirkt hatten und aufgrund einer Konkursprüfung berufen worden waren. Aus dieser ersten Professorengeneration ragt gleichwohl der Siebenbürger Sachse Johann Georg Wenrich (1787-1847) heraus, der als Professor für orientalische Sprachen und Exegese A.C. berufen, sich einen hervorragenden Ruf als Arabist und Orientalist erwarb und zuletzt sogar zum Mitglied und Sekretär der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde.

2. Die selbständige Fakultät

Das Jahr 1848 schien eine Änderung der kleinen, ja marginalisierten Schule herbeizuführen. Lehrkörper und Studierende petitionierten um die Inkorporation der Lehranstalt in die Alma Mater Rudolfina (9.4.1848) und wurden hierin von den anderen Fakultäten durchaus unterstützt. Schlussendlich aber verhinderten der römisch-katholische Stiftungscharakter der Universität und die befürchteten Beispielsfolgen im Blick auf andere nichtkatholische Konfessionen im Habsburgerreich, Armenier, Orthodoxe und Juden, deren Angliederung. Die Lehranstalt sollte gleichwohl zu einer selbständigen Fakultät erhoben, ja sie sollte zur zentralen Ausbildungsstätte der Protestanten in der gesamten Donaumonarchie ausgestaltet werden, aber dessenungeachtet ausserhalb der Universität bleiben. Im Zuge der Hochschulreform des Kultusministers Leo Graf Thun-Hohenstein erfolgte diese erhebliche Verbesserung der Rahmenbedingungen (Erlass vom 8.10.1850), sie durfte genauso die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die akademische Lehr- und Lernfreiheit entsprechend den hochschulrechtlichen Vorschriften für sich in Anspruch nehmen, ihren Dekan selbständig bestimmen und das Vorschlagsrecht bei der Besetzung vakanter Lehrstühle wahrnehmen. Seit 1851 gelang es, Professoren von deutschen Fakultäten zu berufen, 1861 wurde die Fakultät mit dem Promotions- und Habilitationsrecht ausgestattet, über das die erwähnten ungarländischen Ausbildungsstätten noch nicht verfügten. 144 Promotionsverfahren zum Lic.theol. bzw. zum Dr.theol. wurden zwischen 1861 und 1922 durchgeführt, wobei die Promovenden den Protestantismus der Donaumonarchie wiederspiegeln. Den Anfang machte der Slovake Karol Kuzmány (1806-1866), zwischen 1849 und 1863 Professor für Praktische Theologie und Kirchenrecht, an den heute ein Relief im Arkadenhof der Universität erinnert. Auch wenn für die Bedürfnisse der slawischen Studenten seit 1849 im Rahmen der Praktischen Theologie Vorsorge getroffen und die Abhaltung von homiletischen Übungen in den slawischen Sprachen des Reiches gewährleistet wurde, bestanden massive Spannungen unter der Studentenschaft, ja man wird seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sogar konstatieren müssen, dass sich der Nationalitätenkonflikt der Donaumonarchie auch im Mikrokosmos dieser Schule abzeichnete. Sowohl Magyaren als auch Tschechen beklagten sich, dass für ihre spezifischen Bedürfnisse keine Vorsorge getroffen wäre, was zur Folge hatte, dass sie die Fakultät boykottierten. Der Lehrstuhl für Reformierte Theologie blieb aus verschiedenen Gründen lange vakant. Bei der Neubesetzung der Lehrstühle orientierte sich die Fakultät eher an den reichsdeutschen Universitäten, so gelang es etwa die nachmals berühmten Systematischen Theologen Richard Adelbert Lipsius (1830-1892) und Gustav Frank (1832-1904), den Neutestamentler Paul Feine (1859-1933) oder den Alttestamentler Ernst Sellin (1867-1946) zeitweise an Wien zu binden.

Die herausragendste Persönlichkeit dieser zweiten Periode der Fakultät war zweifellos der Systematiker Gustav Frank, der Verfasser einer noch heute geschätzten vierbändigen Theologiegeschichte (1862-1905), der zwischen 1867 und 1903 lehrte und mit seinem Lehramt der Dogmatik, Ethik und Konfessionskunde die Tätigkeit eines geistlichen Oberkirchenrates zu verknüpfen vermochte.

3. Die Eingliederung der Fakultät in die Universität

Seit 1848 lag die Frage der Inkorporierung der Fakultät in den Verband der Universität auf dem Tisch; die Kirchenleitung, Oberkirchenrat und Generalsynode unternahmen wiederholt den Versuch, die letzten entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen und wurden hierin durch anerkannte Wissenschaftler anderer Fakultäten unterstützt. Im Herrenhaus nahm am 28.1.1873 der katholische Slavist Franz Ritter von Miklosich das Wort zugunsten der kleinen Fakultät, jedoch ebenso vergeblich wie die Interpellation des Reichsratsabgeordneten Dr. Josef Pommer am 27.3.1905. Das Äußerste, das erreicht werden konnte, war die Ernennung der Professoren zu ordentlichen Universitätsprofessoren (11.5.1912) und die Aufnahme der Lehrveranstaltungen ins offizielle Vorlesungsverzeichnis der Universität, nicht jedoch die förmliche Inkorporierung. Diese erfolgte erst nach dem Zusammenbruch der Monarchie unter den politischen Bedingungen der Ersten Republik (20.7.1922) und  sie erfolgte aufgrund einer Koalitionsvereinbarung zwischen der Christlichsozialen und der Großdeutschen Partei zur parlamentarischen Bestandsfestigung sämtlicher Theologischen Fakultäten.

Der Zusammenbruch der Monarchie hat den kirchlichen Hintergrund der Fakultät radikal verändert. In Prag und Warschau wurden nun ebenfalls evangelische Fakultäten errichtet, in Preßburg wurde der Kirchlichen Hochschule nun bewusst ein deutschsprachiger Professor beigezogen, die Akademie in Ödenburg fand als Fakultät Anschluss an die Universität Fünfkirchen (Pecs). Sie alle machten der Wiener Fakultät Konkurrenz, was die Ausbildung der evangelischen Theologen des südostmitteleuropäischen Raumes betrifft. Diese musste sich vielmehr auf die volksdeutschen Studenten dieses weitläufigen Gebietes konzentrieren, die Galizien- und Bukowinadeutschen im Osten, die Siebenbürger Sachsen und Donauschwaben im Süden, die Sudeten- und Karpatendeutschen im Norden und das eigentliche Österreich in seinen nunmehrigen Grenzen. Dennoch nahm die Fakultät einen enormen Aufschwung. Dazu haben seit den 20er Jahren Studentinnen beigetragen, die zunächst als außerordentliche Hörerinnen die Lehrveranstaltungen besuchten, ehe ein Ministerialerlass 1928 das Frauenstudium regulär einrichtete.

Als im Jahre 1932 Einsparungspläne laut wurden, die insgesamt 110 Lehrkanzeln betroffen hätten, darunter die gesamte Fakultät, konnte diese auf insgesamt 224 Hörer verweisen, davon 108 aus Österreich und den Nachfolgestaaten, 116 stammten aus dem Deutschen Reich. Die Gefahr der Schließung konnte abgewehrt werden, dazu trugen kirchliche Interventionen aus dem In- und Ausland bei.

4. Die Fakultät in den Wirrnissen des 20. Jahrhunderts

Die historische Entwicklung hatte eine Prussifizierung der Fakultät zur Folge. Die Zierde der Fakultät war indes der Altösterreicher tschechischer Zunge Josef Bohatec (1876-1954), der 1913 aus Bonn berufen worden war und bis 1952 die Lehrkanzel für Reformierte Theologie bekleidete und einen Lehrauftrag für Kirchenrecht wahrnahm. Als Calvinforscher wurde er international geschätzt - von den Theologischen Fakultäten zwischen Debrecen, Amsterdam und Prag, seine vielen internationalen Auszeichnungen (Dr.phil. Prag, Dr.theol.h.c. Bonn, Dr.jur.h.c. Amsterdam, Honorarprofessuren in Debrecen und Pápa) sind ein sprechender Beweis, seine Untersuchungen über Calvins Rechtslehre (1934, 1937) zählen noch heute zur Standardliteratur. Mit Recht ist sein Name der erste gewesen, der über einhelligen Beschluss des Akademischen Senates als bisher einziger Theologe evangelischer Konfession auf der Ehrentafel der Theologischen Fakultät in der Aula der Alma Mater Rudolfina Platz gefunden hat.

Im neuen Campus der Universität erinnert ein Tor an Karl Beth (1872-1959), der bis zu seiner erzwungenen Emigration nach Amerika Professor für Systematische Theologie gewesen ist und vor allem als Religionspsychologe und als Präsident einer internationalen Gesellschaft für Religionspsychologie  in Erscheinung getreten war.       

Mit dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland versuchte die Fakultät sich als Grenzlandfakultät für den Südosten zu profilieren (30.6.1938), doch konnten diese Pläne trotz spürbarer politischer Instrumentalisierung der Theologie nicht realisiert werden. Die in Aussicht genommenen Lehrstühle wurden wieder eingespart, vakante Lehrstühle nur mehr kommissarisch verwaltet - etwa durch den Tübinger Neutestamentler Gerhard Kittel (1888-1948), der sein ganzes politisches Gewicht in die Waagschale warf, um den Ausbau der Grenzlandfakultät zu erreichen und damit dem ehrgeizigen Anspruch der Wiener Universität Rechnung zu tragen und zur führenden Bildungsstätte für den europäischen Südosten aufzusteigen. Im Wintersemester 1944/45 wurde von Berlin die Stillegung der Fakultät verfügt, was aber durch den Dekan Gustav Entz (1884-1957) rückgängig gemacht werden konnte, die Frequenz sank aber auf Null, wenn von den vier fremdkonfessionellen Hörern, orthodoxen Theologen aus Serbien und Montenegro, abgesehen wird, die hier über ein spezielles Förderprogramm ihr Doktoratsstudium betrieben. Im Oktober 1944 war der ungarische Gaststudent Zsigmond Varga (1919-1945) aus Debrecen wegen einer kritischen Predigt verhaftet worden, er kam im Frühjahr 1945 im Konzentrationslager Mauthausen ums Leben.

5. Neubeginn in Bombenruinen

Ein Bombentreffer zu Beginn des Jahres 1945, der  Sekretariat und Archiv der Fakultät zerstörte, markiert einen Wendepunkt der Fakultätsgeschichte; der Neubeginn erfolgte personell und räumlich im ehemaligen Ackerbauministerium in der Liebiggasse. Die als Soldaten eingezogenen Studenten kehrten allmählich zurück, die Studentenzahlen stiegen von den oben erwähnten vier auf 23 im Wintersemester 1945/46. Der Lehrkörper ergänzte sich durch österreichische Pfarrer und Religionslehrer. Die Systematische Theologie A.B. übernahm der lutherische Oberkirchenrat Professor Erwin Schneider (1892-1969), der später zum Rektor der Wiener Universität für das Studienjahr 1958/59 gewählt wurde, der erste aus dem Kreis der Fakultät, dem 1969/70 der Praktische Theologe Fritz Zerbst (1909-1994) und 1989 der Alttestamentler Georg Sauer als Prorektor folgten.

Die drei letzten Jahrzehnte der Fakultätsgeschichte sind besonders gekennzeichnet, dass neben den klassischen Disziplinen der Theologie das Lehrangebot erheblich erweitert wurde: Kirchenrecht (1971), Christliche Archäologie und kirchliche Kunst 1971, Philosophie 1977, Religionspädagogik 1982, Religionswissenschaft 1999. Insbesondere die Einrichtung eines kombinierten religionspädagogischen Studienzweiges (20.1.1981) zur Ausbildung der Religionspädagogen an Höheren Schulen hat die Errichtung eines eigenen Religionspädagogischen Instituts zur Folge gehabt.

Literatur:

Gustav Frank, Die k.k. Evangelisch-theologische Facultät in Wien von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Wien 1871.

Georg Loesche, Zur Hundertjahrfeier der evangelisch-theologischen Fakultät in Wien, 2. April 1921. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 39 (1920) 5-27.

Fritz Wilke, Zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien. In: Amt und Gemeinde 1 (1947) 101-104. 124-128.

Karl-Reinhart Trauner, „...jeder möglichen Beirrung der Gemüter vorbeugen!“. Die Metternich’sche Repressionspolitik an den Universitäten am Beispiel der „k.k. Protestantisch-Theologischen Lehranstalt in Wien“. In: GDS-Archiv für Hochschul- und Studentengeschichte 3 (1996) 41-57.

Karl Schwarz/Falk Wagner (Hgg.), Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821-1996 (= Schriftenreihe des Universitätsarchivs 10), Wien 1997.

Amt und Gemeinde 50 (1999) H. 9 = Themaheft aus Anlass des X. Europäischen Fakultätentages 26.-30.9.1999.